„Mamma! Da, da!“ Marlene ist 15 Monate alt, seit ein paar Monaten kann sie laufen. Sie brabbelt, wuselt durchs Wohnmobil und grabscht nach allem, was in ihrer Reichweite ist. Jetzt möchte Marlene aber schnell raus, mit ihrem Papa zum Bäcker. Der wartet schon draußen. Mama Julia gießt noch schnell den Becher Tee auf, stellt ihn ab, dreht sich weg. Sie sieht nicht, dass Marlene nach dem Becher greift und ihre Finger reinsteckt.

Ein leerer Becher fällt auf den Boden. Marlene, die Augen weit aufgerissen. Wasser rinnt ihr den Körper hinab, übers T-Shirt, über die Beine.

„Ich habe Marlene noch nie so schreien hören“, sagt Julia K. heute. Seit dem Unfall sind rund vier Jahre vergangen. Sie sitzt mit ihrer Tochter Marlene, mittlerweile sechs Jahre alt, im Klinikum München-Schwabing. In wenigen Monaten kommt Marlene in die Schule. Zusammen mit ihrer Mutter ist sie heute ins Klinikum gekommen, weil sie einen Termin zur Nachkontrolle beim
Verbrennungsspezialisten Dr. Carsten Krohn hat.

Marlene, ein zierliches Mädchen mit blonden Locken und Rüschenrock, bittet ihre Mutter um eine Euro-Münze für die Spielzeugeisenbahn im Wartebereich. Sie wirft die Münze ein, die Bahn fährt los, es kommt Leben in die Modellwelt: „Da, Mama, schau, das Haus dort brennt ja!“, ruft Marlene und zeigt auf ein in rot und gelb blinkendes Haus.

„Ich hatte Angst, unsere Tochter zu verlieren“

Eine Schrecksekunde hatte sie damals nicht, stellt Julia fest. „Ich habe an gar nichts gedacht. Ich habe einfach Marlene gepackt, bin zur Tür raus und zum Brunnen auf unserem Camping-Platz gerannt.“ Sie rennt an ihrem Mann vorbei und versucht schon im Lauf, Marlene die Kleider vom Leib zu zerren. Ihre Hände zittern, das Mädchen schlägt und tritt in wilder Panik um sich. „Die Hose habe ich noch irgendwie runterbekommen, aber beim Body mit diesen Druckknöpfen hätte ich am liebsten selbst geschrien“. Endlich sind die Klamotten weg, Julia hält ihre schreiende Tochter unter das kalte Wasser des Brunnens. Die Haut ist bereits feuerrot und löst sich teilweise ab.

„Die Umstehenden hatten sofort einen Krankenwagen gerufen“, erinnert sich Julia K. „Aber der kam und kam nicht.“ Als er eintrifft, sind die Helfer überfordert, ein zweiter Krankenwagen wird verständigt. Marlene schreit weiter, windet sich. Der Notarzt gibt ein Beruhigungsmittel und ruft den
Rettungshubschrauber. Marlene wird ins Krankenhaus nach Barcelona geflogen. Die Eltern dürfen nicht mitfliegen.

„Meine Marlene verbrüht, sediert, allein im Hubschrauber, in einem fremden Land, in eine fremde Klinik“, erinnert sich Julia K. „Ich hatte fürchterliche Angst, sie zu verlieren.“

Diagnose: Verbrühung zweiten und dritten Grades

Die Eltern Julia und Robert K. müssen mit dem Auto nach Barcelona hinterherfahren. Robert kann sich kaum auf den Verkehr konzentrieren. Julia telefoniert, muss sich ablenken: mit der Krankenkasse, dem ADAC, einer Kinderärztin in München. „Sie hat mir vom Zentrum für Schwerbrandverletzte in der Kinderchirurgie an der Klinik in München Schwabing erzählt. Nach diesem Gespräch wusste ich, dass ich meine Tochter nach Hause nehmen würde, sobald sie flugtauglich ist.“ Zwischendurch kann Julia mit der Notärztin im Hubschrauber sprechen: Marlene geht es den Umständen entsprechend gut.

Im Universitätskrankenhaus in Barcelona ist viel los, an der Pforte versteht niemand Englisch. Eine Bekannte, die Spanisch spricht, ist mitgefahren, aber auch die Landessprache hilft nicht weiter: „Kein Mensch wusste, wo unsere Tochter ist, wir mussten sie suchen.“ Robert und Julia eilen durch die
Gänge des Krankenhauses, fragen immer wieder nach und finden ihre Tochter schließlich auf einer Intensivstation: sediert, in Verbänden, mit Magensonde.

Ein Arzt, der Englisch spricht, erklärt Julia und Robert, wie schwer Marlene verbrüht wurde: Nahezu der ganze rechte Teil ihres Körpers, von der Schulter bis zum Oberschenkel, ist betroffen. Verbrühungen dieses Ausmaßes werden am Klinikum in Barcelona nass behandelt. Das bedeutet,
dass jeden Tag die Verbände, die direkt auf der Wunde aufliegen, gewechselt werden müssen. Marlene wird zweimal am Tag in eine Badewanne gesetzt, um die verklebten Verbände etwas leichter ablösen zu können. „Sie hat dabei jedes Mal pausenlos geschrien. Teilweise standen 20
Ärzte in diesem kleinen Raum. Sie standen einfach da und sie lag nackt in der Badewanne mit ihren offenen Wunden. Das war unglaublich demütigend“, erinnert sich Julia.

Julia K. versucht wegzuhören, wenn die spanischen Ärzte über die weitere Behandlung sprechen. Sie hat ihre Entscheidung längst getroffen: Weg aus Barcelona, heim nach München. Sie findet im gesamten Team nur einen Arzt, der das respektiert.

„Da durfte ich Privatjet fliegen“

Beim Warten auf ihre Kontrolltermin hat die heute sechsjährige Marlene zwischenzeitlich Position auf einem Stuhl gegenüber der Spielzeugeisenbahn bezogen. Die steht wieder still, mehr als drei Eurostücke hat Mama Julia nicht im Geldbeutel gefunden. Marlene vertreibt sich die Wartezeit deshalb mit dem Disneyfilm „Schneewittchen“. Gerade tritt die böse Königin auf. Da schaut sie lieber weg und hört ihrer Mama zu. Julia ist in ihrer Erzählung beim Rücktransport nach München angekommen, den sie nach sechs Tagen antreten konnten. „Da sind wir in einem Privatjet geflogen“, ruft Marlene. Hat sie eigentlich Erinnerungen an ihren Unfall? Marlene überlegt und schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt auch ihre Mutter. „Ganz selten erwähnt sie mal die Normalstation im Krankenhaus in Barcelona und den Helikopterflug.“ Die Torturen der Nassbehandlung hat sie zum Glück vergessen.

Angst vor einer Transplantation

Mama Julia hingegen erinnert sich nicht nur lebhaft an die Verbandswechsel, sondern auch an die Angst vor einer Transplantation: vor noch mehr Schmerzen und noch mehr Narben für ihre Marlene. „Die Ärzte in Barcelona haben mir immer wieder erklärt, dass sie Haut transplantieren müssen.“ Und zwar viel Haut: Die Kopfhaut, die man normalerweise für Hauttransplantationen hernimmt, wäre bei Marlenes nicht ausreichend gewesen. Die Ärzte in Barcelona ziehen die Haut des kompletten Rückens in Betracht. Julia schaudert noch heute, wenn sie davon erzählt: „Was, wenn Marlenes Entwicklung zur Frau einsetzt und die gesamte Haut im Brustbereich und am Bauch transplantiert wäre?!“

Am Anfang kann aber auch der Münchner Verbrennungsspezialist Carsten Krohn eine Transplantation nicht ausschließen: „Ich hatte mir schon vorab Bilder aus Barcelona schicken lassen. Diese zeigten einen ausgesprochen tiefen Aspekt der Wunde“, erklärt er. „Das bestätigte die Untersuchung bei uns im OP, direkt am Tag nach Marlenes Ankunft.“

Julia erfährt von Carsten Krohn auch, dass die anfängliche Angst um das Leben ihrer Tochter nicht unbegründet war: Rund 30 Prozent von Marlenes Haut sind schwer geschädigt. Für ein Kleinkind, wie sie es im Alter von 15 Monaten war, kann das lebensbedrohlich sein.


Erste Hilfe bei Verbrühungen und Verbrennungen

Im Haushalt kann es schnell zu Verbrühungen oder Verbrennungen kommen. Aber wie reagiere ich richtig? Und wann rufe ich den Notarzt? Martin Neumann von den Johannitern gibt euch im Video wertvolle Tipps.


Heilung braucht Nähe

Zweimal säubern die Mediziner in München-Schwabing Marlenes Verbrennungen im OP. Die tote Haut wird chirurgisch entfernt. „Bei uns in der München Klinik Schwabing ist es Standard, dass danach alle Areale mit dem Hautersatzmaterial SUPRATHEL abgedeckt werden“, erklärt Krohn.

Mit SUPRATHEL arbeiten die Schwabinger Verbrennungsmediziner seit knapp 20 Jahren und haben gute Erfahrungen gemacht. Vor allem für Kinder hat diese Art der Behandlung immense Vorteile, ist Mediziner Krohn überzeugt: „Im Gegensatz zu einer offenen Behandlung – warmer Raum, äußerst schmerzhafte Verbandswechsel, keine Besucher – können sich die Kinder mit SUPRATHEL bewegen und, je nach Verletzung, zu Mama oder Papa kuscheln.“

Ein Sommer wie kein Zweiter

Einmal noch müssen Marlenes Verbände unter Narkose gewechselt werden, weil die Wundfläche so groß ist. Wenige Tage später dann die Nachricht: Marlene darf nach Hause, gerade mal acht Tage nach dem Unfall. „Nach einer Transplantation wäre das undenkbar gewesen!“, sagt Julia.

Einfach ist der Sommer 2019 für die Familie trotzdem nicht. Marlenes Wunden sind noch offen und nässen. Weil jedes Stück Stoff sofort mit den Wunden verkleben würde, verbringt sie ihre Tage unbekleidet, beim Spielen, am Esstisch, beim abendlichen Vorlesen.

Jeden Tag geht Marlene anfangs mit Robert oder Julia in die Klinik. Dort werden die Verbände gewechselt, die Wundheilung kontrolliert. Marlene ist neugierig, beobachtet jedes Mal genau, was die Ärzte machen. „Mich haben in dieser Zeit die Kraft und Geduld von Marlenes Eltern beeindruckt“, erinnert sich Carsten Krohn. „Sie haben alles getan, um eine möglichst narbenarme Wundheilung zu erreichen. Für den Gesamtverlauf war das mindestens so wichtig wie der Verzicht auf ein Skalpell und die Verwendung von SUPRATHEL.“

Nach einer Superinfektion im August in der rechten Schulter sind die Wunden im Herbst endlich geschlossen. Marlene muss Kompressionskleidung tragen, 24 Stunden am Tag, für knapp zwei Jahre.
Es folgt noch ein Jahr Physiotherapie.

„Ein fantastisches Ausheilungsergebnis“

„Marlene bitte“, ruft die Stationsschwester. Hand in Hand betreten die Sechsjährige und ihre Mutter das Sprechzimmer von Dr. Carsten Krohn. Der Arzt lächelt das Mädchen an, Marlene lächelt zurück, schaut zu ihrer Mutter hoch. Ob sie sich an ihn erinnert? Marlene schüttelt den Kopf. Seit der letzten Untersuchung ist viel Zeit vergangen.

Der Arzt bittet sie das T-Shirt auszuziehen und lässt sich Schulter- und Brustbereich zeigen. „Jetzt streck bitte mal Deine Arme zur Seite.“ Marlene wedelt mit ihren Armen, kichert und hält dann still. Carsten Krohn prüft die Haut im Brustbereich mit dem Finger und wendet sich an die Mutter. Er
erklärt ihr, dass Marlenes Haut im Bereich der Verbrühung immer ein wenig auffällig sein wird. Aber: „Einschränkende Narben sind keine vorhanden, ihre Entwicklung zur erwachsenen Frau wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit völlig normal verlaufen.“

Er erklärt noch, dass es eine Lasertherapie gibt, mit der man die Oberfläche verbessern könnte, wenn sich Marlene das später wünschen sollte. Dann hält er kurz inne, wie um sich zu vergewissern, dass er Julias ganze Aufmerksamkeit hat. Dann fährt er fort: „Für die Art der Verletzung ist das ein fantastisches Ausheilungsergebnis. Marlene wird
ein völlig normales Leben führen können.“

Schneewittchen statt Klavierstunde

Für einen Moment ist es still in Carsten Krohns Behandlungszimmer. Julia spricht leise, nur ein Wort: Danke. Marlene schlüpft in ihr T-Shirt.

„Ich bin unendlich erleichtert“, sagt Julia, nachdem die beiden das Sprechzimmer verlassen haben. Marlene hat es sich auf einem Stuhl in der Ecke gemütlich gemacht, knabbert an einer Karotte und freut sich, dass sie den Rest Schneewittchen anschauen darf. Mutter Julia hat sich entschieden, Marlenes Klavierstunde abzusagen: zu viel Programm für einen Nachmittag, stattdessen eine kleine Verschnaufpause vor dem Heimweg.

Wie „normal“ ist denn Marlenes Leben? „Sie trägt bis heute ihr UV-Shirt zum Sonnenschutz konsequenter als andere Kinder“, antwortet Julia spontan. Und sonst? Wie reagieren andere Kinder, wenn sie die vernarbte Haut auf der Brust sehen? Julia überlegt. Sie erinnert sich an zwei Ereignisse, beide beim Baden. Das erste trug sich im Sommer, ein Jahr nach dem Unfall zu. Da forderte ein anderes Kind Marlene auf, ein T-Shirt anzuziehen, denn er wolle die Narben nicht sehen. „Zum Glück hat Marlene das nicht realisiert, aber bei mir sind alle Dämme gebrochen“, erinnert sich Julia.

Die zweite Situation liegt etwa ein Jahr zurück: Marlenes bester Freund wollte wissen, was sie denn gemacht habe. Marlene hat ihm ihre Geschichte dann selbst erzählt, von ihrer Verbrühung, ihrem Helikopterflug und dem Privatjet.

Von Rabeneltern und anderen Schuldgefühlen

„Natürlich hatte ich Schuldgefühle.“ Julia blickt auf die Kaffeetasse in ihren Händen. „Ich dachte immer, sowas passiert nur Rabeneltern.“ Als sich Robert und Julia gegenseitig immer wieder dieselben Fragen stellen – wieso hast du Marlene nicht gleich mitgenommen, wieso hast du den Tee nicht weiter hochgestellt – suchen die beiden psychologische Hilfe. In Einzelsitzungen und gemeinsam besprechen sie den Unfall. Es hilft ihnen zu
verstehen, dass keiner in dem Moment anders handeln konnte, „dass es eine Verkettung blöder Umstände war, für die niemand etwas kann.“ Sie lernen den Unfall zu akzeptieren, als Teil ihrer Geschichte als Familie und als Ehepaar.

Andere Familien, die ähnliches erlebt haben und versuchen, allein damit fertig zu werden, hat Julia viele kennengelernt. Gut findet sie das nicht. Oft werde aus Scham geschwiegen und der Vorfall zu einem Tabuthema für die ganze Familie. Carsten Krohn pflichtet dieser Einschätzung bei: „Eine
Verbrühung brennt sich in die Seele der gesamten Familie hinein. Eltern machen sich immer irrsinnige Selbstvorwürfe, weil sie – oftmals zurecht – erkennen, dass der Unfall vermeidbar gewesen wäre.“

Andere haben eine zu große Nase

Zu Julias offenem Umgang mit dem Unfall gehört, dass sie auch für Marlene nach einem Zugang zu psychologischer Betreuung gesucht hat. „Ich will, dass sie gewappnet ist, wenn die Pubertät kommt oder einfach nur das erste Schulschwimmen.“ Ein Gefühl des Makels soll gar nicht erst entstehen.
Und noch etwas anderes ist Julia wichtig: „Eines Tages wird mich Marlene vielleicht fragen: ‚Mama, warum hast Du nicht besser aufgepasst‘, vielleicht aus einer Wut heraus, vielleicht in Folge eines Erlebnisses. Es ist mir wichtig, dass sie dann einen Ansprechpartner hat.“ Die Familie hat deshalb einen
Kinder- und Jugendpsychologen zu Rate gezogen. Allerdings sieht dieser, dank dem offenen Umgang der Familie mit dem Unfall, derzeit keinen Anlass, das Thema eventuell „überzustrapazieren“.

Julia schaut zu ihrer Tochter hinüber. Die sitzt über ihrem Kinder-Tablet, ein Lächeln im Gesicht. Die Musik verrät, dass bei Schneewittchen die Welt wieder in Ordnung ist. „Komm, Marlene,“ ruft Julia, „lass uns zusammenpacken und nach Hause fahren.“


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